Wo entspringt unser Wille?


Dr. des. MARTIN P. GRÜNHOLZ
Dozent für Dogmatik, Ethik, Gemeindepraxis und Kirchengeschichte

„Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. (…) Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt“ (Römer 7, 15.18b-20).

Wer diese Zeilen des Apostels Paulus aus dem Brief an die Gemeinde in Rom liest, wird sich vermutlich selbst darin wiederfinden: Man will – oder will zumindest wollen –, doch man schafft es nicht! Oder wie Jesus zum schlafenden Petrus im Garten Gethsemane sagt: „Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach“ (Matthäus 26,41b).

Kann ich „wollen?“

Auf den ersten Blick erscheint dies eine überflüssige, ja, sogar sinnlose Frage zu sein. „Natürlich ‚will‘ ich, es funktioniert halt nur nicht immer!“ Aber gerade dies weist uns darauf hin, dass die Frage nach unserem Willen gar nicht so einfach ist. Der schottische Philosoph David Hume bezeichnet die Frage nach der Willensfreiheit als „umstrittenste Frage der umstrittensten Wissenschaft, der Metaphysik“. Schon die Philosophen in der Antike haben sehr kontrovers über diese Frage debattiert, und bis heute gibt es äußerst gegensätzliche Theorien darüber. Ist unser Wille vielleicht sogar nur eine Illusion, eine (Selbst-)Täuschung? Wird unser Wille durch chemische Abläufe in unserem Gehirn festgeschrieben, wie manche Neurowissenschaftler um Benjamin Libet und Experimente im Max-Planck-Institut mutmaßen? Oder ist unser Wille – unser ganzes Selbst – lediglich das Ergebnis von gesellschaftlichen, psychischen und sprachlichen Mechanismen, wie postmoderne Philosophen wie Gianni Vattimo oder Jean-François Lyotard annehmen?

Eine grundlegende Frage nach dem Menschen

Es lässt sich also nicht auf die Frage nach unserem Willen beschränken, sondern weist auf unser ganzes Menschsein hin: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ Die Frage von König David in Psalm 8,5 ist daher bis heute hochaktuell. Zugleich stellen wir gerade bei David eine wichtige Verschiebung fest; er richtet diese Frage nämlich an Gott! Sie ist eingebettet in den Lobpreis der göttlichen Majestät, die Anbetung des Schöpfers, der alle Dinge wunderbar geschaffen hat. Im Angesicht der Schönheit der Schöpfung wirft gerade das die Frage auf: Was ist eigentlich der Mensch, wie passt er in diese Welt, und wie frei ist er?

Die Spannung von Sein und Sollen

Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ (1. Mose 1,27). Darin gründet die gesamte Würde des Menschen. Jeder Mensch – ohne Ausnahme! – ist wertvoll, weil er ein Abbild des lebendigen Gottes ist. Deshalb konnte Gott auch Adam als seinen Repräsentanten gegenüber der Schöpfung einsetzen, der den Garten Eden bebauen und bewahren sowie die Tiere benennen sollte (1. Mose 2,15-20). Auch über die Vertreibung aus Eden hinaus bleiben dieser Auftrag sowie diese Würde bestehen, weshalb König David im besagten Psalm auch ausführt: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan“ (Psalm 8,6-7).

Der Zerbruch des Willens

Es bleibt aber die Frage bestehen, wie es nun um den Willen des Menschen bestellt ist, denn von der Ebenbildlichkeit herkommend müsste der Mensch doch eigentlich in der Lage sein, Wollen und Tun zusammenzubringen. Der entscheidende Wendepunkt geschah durch einen willentlichen Akt, nämlich die bewusste und willentliche Missachtung von Gottes Geboten, den Sündenfall. Es hatte Adam und Eva nicht ausgereicht, Gottes Repräsentanten zu sein, sie wollten viel mehr „sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“ (1. Mose 3,5). Aufgrund des Sündenfalls lesen wir: „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren“ (1. Mose 3,7). Was sich zunächst nach vermeintlicher Aufklärung, nach Befreiung anhört, fühlt sich sehr schnell nach Ohnmacht, nach Verletzlichkeit, dann nach Zerbruch an. Und in der Tat zerbrach im Moment der Rebellion gegen Gott etwas im Menschen selbst. Der Abglanz der Herrlichkeit Gottes wurde durch die Sünde gebrochen, wie ein auf den Boden geworfener Spiegel zersplittert. Die Ebenbildlichkeit ist weiterhin vorhanden, die Würde behält der Mensch, doch er ist nicht mehr in der Lage, sie in gedachter Weise zu reflektieren.

Der Abglanz der Herrlichkeit Gottes wurde durch die Sünde gebrochen, wie ein auf den Boden geworfener Spiegel zersplittert.

Diagnose: Herzproblem

Als Jesus mit den Pharisäern und Schriftgelehrten über den Sinn der Reinheitsvorschriften des Alten Testaments diskutiert, wirft Jesus ihnen vor, dass sie äußerlich versuchen, alle Gebote und Ordnungen Gottes einzuhalten und ihm die Ehre zu geben, aber innerlich, in ihrem Herzen, fern von Gott sind. Und dann führt er aus: „Was aus dem Menschen herauskommt, das macht den Menschen unrein; denn von innen, aus dem Herzen des Menschen, kommen heraus böse Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Missgunst, Lästerung, Hochmut, Unvernunft“ (Markus 7,19-22). Die Sünde ist also nicht nur das, was der Mensch tut, sondern das Problem geht viel tiefer: Es liegt in seinem Herzen verwurzelt. Der Mensch „will“ sündigen. Deswegen spricht Paulus in Römer 7 auch davon, dass er „verkauft ist unter die Sünde“, dass sie „in ihm wohnt“ (Römer 7,14.17). Und schon Kain wird von Gott gewarnt: „Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie“ (1. Mose 4,7b). Der Kirchenvater Augustinus fasste es so zusammen, dass der Mensch nach dem Sündenfall nicht nicht sündigen kann –nicht fähig ist, nicht zu sündigen (non posse non pecarre). Selbst wenn er sich äußerlich doch einigermaßen gut verhält, so ist das Herz des Menschen das Problem, weil er immer nach Mitteln und Wegen sucht, sich selbst zu verherrlichen und nicht Gott die angemessene Ehre zu geben. Nicht immer muss Sünde also eine äußerlich schlechte Tat beinhalten, diese kann sogar sehr gut und doch ein Akt der Rebellion sein, weil der Mensch selbst Gott sein und sich und die Welt selbst im Griff haben möchte.

Der Wille zur Sünde

Wie kann ein Mensch über seinen Willen verfügen, wie kann er ihn beherrschen? Von sich aus: überhaupt nicht! So lautet die ernüchternde Diagnose der Bibel. An die Epheser schreibt Paulus: „Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr früher gelebt habt nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams“ (Epheser 2,1-2). Die Knechtschaft unseres Willens geht also so weit, dass wir nicht allein „schlecht beeinflusst“ sind, sondern „tot“, unfähig, etwas anderes zu tun als zu sündigen, weil wir unter einer fremden Herrschaft stehen, der Herrschaft der Sünde und ihres Ursprungs, dem Satan. Wir sind von uns aus willentlich gebunden und verkauft und können uns nicht befreien.

Erlösung durch Freikauf

Doch gerade hier tritt nun das Evangelium hinzu. Wenn nämlich Jeremia ohnmächtig ruft: „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?“, antwortet Gott: „Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen“ (Jeremia 17,9-10). Und auf den Ohnmachtsausruf des Apostels Paulus „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?“ folgt die Antwort: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ (Römer 7,24-25). Die gute Nachricht der heiligen Schrift besteht nämlich gerade darin, dass Gott seine Liebe erweist, „dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Römer 5,8). Jesus gibt sein Leben als Lösegeld (Markus 10,45), um die Menschen aus der Sklaverei der Sünde freizukaufen, um ihnen, die geistlich tot sind, das Leben einzuhauchen. Wir haben nichts vorzuweisen vor Gott, wir bringen nur Sünde hervor, doch gerade deshalb ist Jesus Christus Mensch geworden und stellvertretend für uns am Kreuz gestorben, um uns zu erlösen (Römer 3,21-26).

Die Reinigung des Willens

Die Erlösung des Menschen bedeutet auch eine Erlösung des Willens. So folgert Paulus, dass, wenn ein Mensch von Jesus Christus befreit wurde, er eine „neue Kreatur“ geworden ist (2. Korinther 5,17). Das Evangelium beinhaltet also nicht allein, dass ich vor Gott gerecht gesprochen werde und einmal in der Ewigkeit bei ihm sein darf, sondern es hat bereits real-praktische Auswirkungen auf mein Sein heute. Wer an Jesus Christus glaubt und getauft ist, ist „in seinen Tod getauft“ (Römer 6,3), wurde mit ihm begraben und mit ihm auferweckt zu einem neuen Leben: „Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde“ (Römer 6,3.6-7).

Getrieben durch Sohn und Geist

Der entscheidende Unterschied ist nun nicht, dass ein wiedergeborener Christ nicht mehr sündigt, sondern dass die Sünde ihre zwingende Macht auf den Menschen und seinen Willen verliert. Augustinus beschrieb den Unterschied so, dass der Christ aus dem „Nicht-fähig-Sein, nicht zu sündigen“ (non posse non peccare) des unerlösten Menschen befreit wird zu einem „Fähig-Sein, nicht zu sündigen“ (posse non peccare). Der Mensch kann also nun anfangen, gegen die Sünde anzukämpfen, auch wenn dies immer nur als Stückwerk gelingt. Paulus drückt es so aus: „So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid, und lebt Gott in Christus Jesus. So lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, und leistet seinen Begierden keinen Gehorsam“ (Römerv6,11-12). Was der Apostel in Kapitel 7 dann beschreibt, ist der bleibende Kampf gegen die Sünde im Herzen und Leben des Menschen, des erlösten und gerechtfertigten Menschen! Die Sünde verliert ihre zwingende Macht, weil Christus uns aus der Sklaverei von ihr befreit und wiedergeboren hat und nun in uns lebt (Galater 2,20).

Nicht mein, sondern dein Wille geschehe

Der Kampf gegen die Sünde geschieht in unseren Herzen, im erneuerten Herzen. Und neben Jesus Christus in uns ist es ebenso der Heilige Geist, der im Herzen der Kinder des Vaters tätig ist und sie „antreibt“ (Römer 8,14), dem Willen Gottes gehorsam zu sein. Die schlafenden Jünger musste Jesus in Gethsemane noch zurechtweisen, er selbst aber konnte beten: „Doch nicht mein, sondern deine Wille geschehe!“ (Lukas 22,42). Gerade dahin führten die Befreiung und die Erneuerung durch das Heilshandeln Gottes an und in uns, dass wir Menschen überhaupt erst in die Lage versetzt werden zu erkennen, dass unser Wille uns in den Abgrund führen würde, und wir uns ausrichten wollen nach dem Willen des lebendigen Gottes.

Und dann beginnt in der Nachfolge Christi, getrieben durch den Heiligen Geist, täglich neu das Prüfen des Willen Gottes an seinem lebendigen Wort (Römer 12,1-2).

Martin P. Grünholz ist Dozent für Systematische Theologie an der Biblisch-Theologischen Akademie in Wiedenest. Er arbeitet beim Netzwerk Bibel und Bekenntnis, sowie der Mediathek offen.bar mit.

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe November 2022 der cv-Perspektive.


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